27.2.11

Vernunftzone Schweiz

Zugegeben: Auch in der Schweiz wird nur mit Wasser gekocht, und eine Insel der Seligen ist sie auch nicht. Aber doch erheblich vernünftiger als Deutschland, wo einmal beschlossene Dinge (Stuttgart 21!) auf Teufel komm raus durchgezogen werden, auch wenn sie sich längst als Unsinn entpuppt haben.

Ja, die Gemeinden im Zürcher Umland machen es den Autofahrern immer schwerer, man findet kaum noch Gratisparkplätze. Und diese doofe Autobahnvignetten-Unsitte haben die Schweizer auch mitgemacht.

Aber sie sind lernfähig - z. B. als sie, anderen europäischen Ländern folgend, die Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 absenkten und verblüfft feststellen mußten, daß die Zahl der Unfälle stieg, nicht sank. Das sei darauf zurückzuführen, daß die Männer früher nach zwei Bier in der Kneipe selbst nach Hause fuhren, und jetzt ließen sie sich von ihren Frauen chauffieren, und die führen halt schlechter, erklärten sich das die Schweizer - und setzten die Grenze wieder auf 0,8 herauf.


Ganz ähnlich mit den Umweltzonen in den Innenstädten. Nach deutschem Muster sollten sie eingerichtet werden - bis jetzt alles abgeblasen wurde (FAZ vom 22.2.): »Die Schweizer Bundesrätin Doris Leuthard hat das von ihrem Vorgänger nach deutschem Vorbild vorbereitete Projekt von Umweltzonen in der Schweiz gestrichen. Aus der Sichtung der 3700 eingegangenen Anhörungsantworten ging hervor, daß Umweltzonen vor allem ein emotionales, heißes Diskussionsthema in der Bevölkerung sind. ›Linksgrüne Kreise sind darüber empört - wie es sich gehört, wenn etwas nicht nach ihrem Sinn verläuft. Denn sie allein wissen bekanntlich, was dem Lande frommt und ihm guttut‹, schreibt die Schweizer ›Automobil Revue‹. Die im Ausland - siehe Deutschland - mit einem Fahrverbot erreichten Schadstoffreduktionen bewegten sich im Nanobereich. Tatsächlich sind sie vielerorts nicht nachweisbar, sondern bedeuten nur eine weitere Schikane gegen das Auto. ›Zudem hätten die Einführung und die Kontrolle von Umweltzonen in keinem Verhältnis zum Aufwand [gemeint ist wohl: zum Ertrag] gestanden, den sie erfordert hätten. Schön, daß deshalb am Ende die Vernunft und der gesunde Menschenverstand siegten. Und das läßt hoffen‹« - nur leider nicht für uns Deutsche :-(

Einen Toast auf die Schweizer! :-)

Ein Versuchsballon?

»Die Ernüchterung Amerikas« heißt ein unlängst erschienenes Buch über die Prohibitionszeit in den USA 1920 bis 1933. Mal sehen, wann's zu einer Ernüchterung Deutschlands bezüglich des Islams kommt.

Da hat vor einigen Jahren ein muslimischer Schüler geklagt: Er wollte von seiner Schule einen Gebetsraum für seine religiösen Pflichten bekommen. Und er bekam Recht - und den Gebetsraum. Den er anschließend allerdings kaum nutzte.

In Köln erschienen einige Schülerinnen nach den Ferien auf einmal mit Burka und wurden der Schule verwiesen.

In Frankfurt versuchte eine Angestellte der Stadt mit Kundenkontakt dasselbe - und verlor ihren Job.

Auffällig ist in jedem Fall, daß das religiöse Gewissen der Betreffenden erst nach einiger Zeit zu schlagen begann, während sie zuvor nichts auszusetzen hatten. Darüber hinaus frage ich mich, ob die Kläger von muslimischen Verbänden unterstützt wurden, so wie jene Fereshta Ludin, die meiner Erinnerung nach die erste kopftuchtragende Lehrerin Baden-Württembergs sein wollte.

Sind das alles Versuchsballons, mit denen muslimische Verbände herausfinden wollen, was bereits geht in Deutschland und was (noch?) nicht?


Vor Tagen ging das Spiel in eine neue Runde: Ein muslimischer Supermarktangestellter weigerte sich, Bierkästen einzuräumen. Das sei gegen seine Religion. Wohlgemerkt: Niemand zwang ihn, Bier zu trinken - er sollte es nur einräumen, wozu er ja (unter anderem) eingestellt worden war. (Vor Monaten berichtete ich darüber, daß belgische Parlamentarier ein Treffen mit iranischen Parlamentariern abgesagt hatten, weil die weder einer Frau die Hand schütteln noch auch nur an einem Tisch sitzen wollten, an dem die Belgier Wein zum Essen tranken). Und das Bundesarbeitsgericht gab ihm Recht. Der Betrieb müsse prüfen, ob der Angestellte nicht anderswo eingesetzt werden könne. (Demnächst wird er sich wahrscheinlich weigern, an der Fleischtheke Schweinefleisch einzuräumen.)

Die FAZ fand den Vorfall so wichtig, daß sie ihm zwei Kommentare einräumte, einen so halb verständnisvollen auf Seite 1 (also im politischen Teil) und einen säuerlichen im Wirtschaftsteil: Solche Richtersprüche würden die Beschäftigungschancen von Muslimen nicht erhöhen. In der Tat: Wäre ich Chef des Supermarkts, ich würde den Typ bei der erstbesten Gelegenheit mit dem erstbesten Vorwand loswerden - und in Zukunft keine Muslime mehr einstellen. Prost.

»Arbeitslos und Spaß dabei«

... das denkt sich offenbar Richard Sarrazin, Sohn von Thilo Sarrazin, gelernter Bürokaufmann und Hartz-IV-Empfänger.
Arbeitslos zu sein sei gar nicht so schlecht, verkündet der in einem Ostberliner Plattenbau lebende Dreißigjährige, da könne man ganz natürlich nach seinem eigenen Rhythmus leben, nicht nach einem aufgezwungenen.
Ja, versteh ich irgendwie. Nur muß man dann halt den Gedanken verdrängen, anderen Menschen ohne Not auf der Tasche zu liegen - steuerzahlenden Menschen, die vielleicht auch lieber faulenzen als arbeiten würden.
Und so trifft wieder einmal zu, was Ellen Kositza vor einigen Jahren in dem Magazin »eigentümlich frei« über ihre schmarotzende und faule Nachbarsfamilie feststellte: »Keine weitere Runde Mitleid, sondern ein deftiger Tritt in den Allerwertesten wäre die angemessene Nothilfe. Klar, der bleibt aus, nicht mal mit Samthandschuhen wird angeschubst.«
Wahrscheinlich hülfe nur, was Bill Clinton in den USA einführte: die zeitliche Befristung der Sozialhilfe auf maximal fünf Jahre pro Menschenleben. Damit sie nicht zum bequemen Lebensstil wird.

Bis zu unserem SCHWÄBISCHEN TAGBLATT ...

... hat es sich jetzt herumgesprochen, daß häusliche Gewalt in weitaus mehr Fällen als oft vermutet von Frauen ausgeht, nicht vom Mann.

Der Erkenntnisfortschritt ist eine Schnecke, aber auch die kommt langsam voran.

Bis 2021 zu warten ...

... braucht der Besucher dieses Blogs nicht, bis er die nächste Santiago-Episode zu lesen bekommt. Das müssen nur diejenigen, die durch die Porta Santa in den Dom zu Santiago zu gelangen wünschen:
Doch ich war letzten Sonntag und werde diesen Sonntag beschäftigt sein mit dem Fertigstellen eines anderen Werks - nächsten Sonntag geht's wahrscheinlich weiter mit dem Reisebericht :-)

13.2.11

Großartige Panoramen ...

... und bandscheiben-, reifen- und stoßdämpfermordendes Geschüttel kann man auf der Fahrt durch Island erleben. Wieso ich jetzt darauf komme?



Wegen eines Youtube-Videos: »Fahren auf dem Nationalen Highway Nr. 1«, der Ringstraße, diesem besseren Feldweg, auf dem ich 1995 mit meinem alten Diesel die Insel umrundete. Die Isländer hatten den härtesten Winter seit 1930 hinter sich, und manche Nebenstraße war noch wegen Schnees gesperrt (Ende Mai!), einmal mußte ich an einem Schneewall umkehren und zurückkehren zur Hauptstraße Nr. 1, die immerhin schon zu zwei Dritteln asphaltiert war - was bedeutete: nur noch 500 km Geschüttel statt 1500.

Meist war das Wetter schön, aber ich erlebte auch triste Szenarien wie jener Fahrer in dem Video im November. Man beachte das umgestürzte Auto am Anfang links ... (Und diese unterlegte Schnulze! Bisher kannte - und liebte - ich die nur auf deutsch.)

Irgendwie macht mich diese Schnulze wehmütig und erweckt das Fernweh, ich möchte gleich wieder durchstarten, sogar in diesem tristen abgebildeten Wetter ...

Noch'n Video:

»Wenn Ihnen das Wetter nicht gefällt, dann warten Sie eine Viertelstunde.« Kenn ich. Minute 2:00 ff.: Klebrige Gebirgsstraße, nicht abgesichert an Steilhängen: Kenn ich. Da muß der Schutzengel Überstunden machen.

Und noch eins:

Bei schönem Wetter und ohne einen Platten ist alles ganz easy ;-)



Und siehe da: Im Osten Island ist die Nationalstraße 1 auch 2010 immer noch ... nun ja: Rustikal. (Video Nr. 4).



Als ich wieder zurück war, wollten alle meine damaligen Kollegen in der Fabrik nur wissen, ob ich eine der Isländerinnen »gepackt« hätte. Als ob's in diesen kleinen Käffern Puffs gäbe! Gesucht hatte ich allerdings auch nicht danach. Und als ich in Reykjavik eintraf (das damals noch nicht für seine Partymeile berühmt war), hatte sich durch die Reise in diesem teuren Land mein Portemonnaie schon so bedrohlich gelehrt ...

12.2.11

4. Tag: Pedrafita do Cebreiro – Santiago de ComposteIa (Mo, 3.1.2011)

Nach acht Uhr morgens wurde es zögernd hell, nach neun ging über den Bergen im Osten die Sonne auf. »La Coruña: Sonnenaufgang: 9.06 Uhr«, las ich später in einer Zeitung. »Mittagshöhe der Sonne: 13.38 Uhr; Sonnenuntergang: 18.06 Uhr«. Und das Anfang Januar! Kam dann später noch die Sommerzeit hinzu, erreichte die Sonne ihren »mittäglichen« Höchststand erst 20 vor drei am Nachmittag, und um 12 Uhr »mittags« herrschte tiefer Vormittag. Eine völlig verdrehte Uhrzeit.
Runter in die Gaststube zum »Frühstück«, das aus zwei Milchkaffees und einem Bonbon besteht – zu essen gibt's nichts, und die Kaffees mußte ich selbstverständlich auch bezahlen. Mein Auto sah nach der Nacht noch weißer aus als ohnehin schon – überzogen mit einer dicken Rauhreifkruste.
Wieder aufs Zimmer. Ein paar Fotos aus dem Fenster auf die in der Morgensonne liegenden Teile des Ortes (das Hotel lag im Schatten von Bergen, die nach Westen, Richtung Santiago, aufragten). Aufbruch um halb elf. In schwarzer Hose und schwarzem Pulli brachte ich das Gepäck zum Auto, ließ den Motor warmlaufen, während ich das – zum Glück leicht entfernbare – Eis von den Scheiben kratze. »- 2 Grad Celsius« zeigte die Laufschrift auf der Schattenseite meines Hotels an.
Rauf auf die Straße nach Santiago, kaum ein paar Dutzend Meter vom Hotel entfernt. Gleich war ich aus dem Ort heraus, und die Straße stieg stetig an. »Santiago de Compostela 171 km« verkündete eine Hinweistafel. Stop an einer Parkbucht (und wenig später noch einmal). Blick zurück auf den Ort, Fotos. Ein herrliches Panorama breitete sich vor mir aus: Das Tal mit der Autobahn und der Nationalstraße 6 La Coruña-Madrid, bis zu 1600 Meter hohe grüne Berge, die tieferen Täler alle dekorativ im Nebel »ertrunken«, während hier oben schönster Sonnenschein und mildes Wetter herrschte. Noch – der Wetterbericht drohte damit, daß eine Regen- und Sturmfront nach der anderen Galicien von Westen her durchziehen würde, schon bald.
Nebelsuppe in den Tälern Galiciens
Nach wenigen Kilometern passierte ich schließlich in 1300 Metern Höhe das Dörfchen O Cebreiro auf einem Bergkamm, kaum 100 Einwohner dürfte es haben – und ein Pilgerhospiz mit jener Webcam, die die herrlichen Ausblicke Richtung Nordwesten einfängt, mal verschneit, mal grün, wie jetzt. (Nur wenige Schneereste waren noch zu sehen.) Eine Straße zweigt hier links ab in noch einsamere Gefilde.
Ich wurde kurz langsamer, hielt aber nicht an. Schade. Ich hätte mich vorher ausführlicher informieren sollen, was für ein bedeutender Ort O Cebreiro bei all seiner Kleinheit ist (siehe Kasten), dann wäre ich daran nicht so vorbeigeeilt.

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Klein, aber oho: O Cebreiro
Niedlich, klein und unbedeutend sieht es aus, das 1300 Meter hoch gelegene Dörfchen O Cebreiro: Eine Kirche, ein Dutzend Häuser, darunter einige »Pallozas«, ovale Hütten für Vieh und Menschen, mit Strohdach und ohne Kamin und Fenster, wie die Keltiberer sie vor 2000 Jahren bewohnten, mindestens zwei Gasthöfe, eine Pension, ein (sommers oft überfülltes und dann durch Zelte ergänztes) Pilgerhospiz und natürlich eine Kirche. Sogar eine ganz besonders berühmte (siehe unten). Ein Dörfchen, das fast ganz vom Jakobsweg lebt.
O Cebreiro ist die älteste Pilgerstation überhaupt: Bereits 836 stiftete Alfons der Keusche hier ein Pilgerhospital und gründete ein Kloster zu dessen Versorgung.
Im Jahre 1300 soll sich hier ein Hostienwunder ereignet haben: Ein frommer Bauer kam trotz Sturm den Berg hinauf zur heiligen Messe, die ein an Gott zweifelnder Mönch zelebrierte, der machte sich insgeheim lustig über den Bauern. Während der Eucharistie wandelte sich jedoch tatsächlich Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi, woraufhin der Mönch von seiner Skepsis geheilt war. – 200 Jahre später anerkannten zwei Päpste nacheinander das Wunder als »echt«, darunter Papst Alexander VI. aus dem Hause Borgia, Verwandter der Giftmischerin Lucrezia Borgia und berühmt-berüchtigt für seinen sittenlosen Lebenswandel.
Die dreischiffige Kirche Santa Maria ist die älteste Pilgerkirche am Jakobsweg und wurde zusammen mit dem oben erwähnten Kloster gebaut. Sie ist wegen der Stürme sehr tief in den Felsen gesetzt. Das Taufbecken aus dem 9. Jahrhundert ist ein Untertauchbecken, wie es bis ins 13. Jh. üblich war. Das Gnadenbild der Santa Maria la Real oder der Heiligen Jungfrau vom Cebreiro aus dem 12. Jh. wurde 1971 restauriert und ist alljährlich am 8. September Ziel einer Wallfahrt, an der schon bis zu 30.000 Menschen teilnahmen.
Der langjährige Pfarrer von O Cebreiro, Don Elías Valiña Sampedro (er lebte von 1929 bis 1989), war vielleicht der Wiederbegründer der modernen Jakobspilgerei. Seine Doktorarbeit von 1965 war dem Jakobsweg gewidmet, 1966 sorgte er für die Restaurierung der erwähnten Kirche (in der er auch begraben liegt), die Errichtung des Pilgerhospizes und einer Gaststätte, bald darauf schrieb er den ersten modernen Reiseführer für den »Camino francés«, die Hauptpilgerroute über Burgos und Leon. Ab 1984 markierte er weite Abschnitte des »Camino francés« neu – mit dem bis heute gebräuchlichen gelben Pfeil, den er einführte. Die Seite celtiberia.net berichtet eine Anekdote, die Aufschluß über die Größe seiner (inzwischen Realität gewordenen) Vision gibt: Polizisten der Guardia Civil beobachteten Valiña Sampedro beim Markieren eines Pyrenäenübergangs mit gelben Pfeilen, der auch gelegentlich von Mitgliedern der verbotenen baskischen Separatistenorganisation ETA benutzt wurde. Auf die Frage, was er da mache, erklärte der Pfarrer: »Ich bereite eine große Invasion vor!« Und damit behielt er recht. Santiago-Besucher gab's zwar schon in den 70er Jahren zu Hunderttausenden, darunter waren aber sehr wenige echte Pilger; der Jakobsweg war halb vergessen. Erst in den 80er und 90er Jahren schwoll der Pilgerstrom auf jenes Maß an, das wir heute kennen.
Die Gesamtgemeinde Pedrafita do Cebreiro, einschließlich des 1100 Meter hoch gelegenen Hauptorts, in dem ich übernachtet hatte, hatte 2010 1263 Einwohner. 2003 waren es noch 1517 gewesen. Von den heutigen Einwohnern sind fast 40 % über 65 und noch nicht mal vier Prozent unter 15 – Kennzeichen für einen Ort im Niedergang …
(Quellen: deutsche, englische und galizische Wikipedia)
Winterlicher Ausblick von O Cebreiro
Nicht nur für Pilger: Pension in O Cebreiro
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Das alles wußte ich nicht, ich las es erst, als ich wieder zu Hause war. Immerhin hat man so einen Grund wiederzukommen, und das nicht nur, um die örtliche Spezialität (den hier gemachten Frischkäse zusammen mit dem ebenfalls hier produzierten Honig) zu verkosten …
Ich bummelte langsam weiter auf der Straße, auf der ich fast allein unterwegs war. Wunderschöne Ausblicke, Pässe: 1220 Meter hoch, 1355 Meter hoch. Hie und da kleine Dörfchen – und erntereife Krautbeete. Immer wieder das Warnschild »Vorsicht Pilger!«, und einmal sah ich auch zwei Pilger.
Das Städtchen Samos lag noch hoch genug für Sonnenschein und 12 Grad, das nächste Städtchen namens Sarria nicht mehr. Im Tal eines Flüßchens gelegen, lag es inmitten grauen Nebels, und es war vier Grad kühl. Aber in Sarria gab es schon wieder die ersten Palmen, wenn auch nur schmale, über 100 Kilometer vor Santiago und 130 Kilometer vorm Meer.
Die Durchgangsstraße durchschnitt Sarria mit einer gewiß über einen Kilometer langen Straßenschlucht, gesäumt von den üblichen Kästen rechts und links, die man in Deutschland als unangemessen hoch für eine Kleinstadt empfände. Einen Parkplatz fand ich erst, als ich den Stadtkern mit den meisten Geschäften und Kneipen schon hinter mir gelassen hatte.
Der Boden der Kneipe, die ich betrat, war schon vermüllt – aber zu essen à la carte (nach der Karte, die ich hungrig vor der Tür studiert hatte) gab's noch nicht, es war ja noch nicht 12 Uhr. Immerhin stillten einige kalte Häppchen, größer als Tapas und bezahlpflichtig, meinen größten Hunger.
Weiter nach Westen, bei Portomarin über den hier seeartig aufgestauten Rio Miño, der weiter im Süden die Grenze zu Portugal bildet, eine Grenze, an der sich die beiden Nachbarn wie üblich ziemlich den Rücken kehren. Als irgendwann in den 1880er Jahren eine erste Eisenbahnbrücke über den Fluß beide Länder verband, vergaß man nicht die Sprenglöcher – damit man im Kriegsfalle die Brücke rasch in die Luft sprengen könnte …
Santiago war jetzt noch gut 100 Kilometer entfernt. Wer die begehrte »Compostela«, die Pilgerurkunde, bekommen will, der muß nachweisen, die letzten 100 Kilometer zu Fuß oder die letzten 200 Kilometer zu Rad oder zu Pferd zurückgelegt zu haben, mit den Stempeln von Pilgerherbergen als Beweis.
In der Tat sah ich jetzt öfter Pilger, dort, wo der Pilgerweg in Sichtweite der Autostraße verlief – oder sie kreuzte. Wunderte ich mich an einer Stelle über ein Schild »Vorsicht Pilger!« – der Pilgerweg schien mir hinter einer Hecke zu verlaufen –, so trat im nächsten Moment ein Pilger mit Rucksack und Pilgerstab zwischen zwei Sträuchern an die Straße, wollte sie queren, und wäre ich nicht so langsam gefahren und er nicht so wachsam und vorsichtig …
Allmählich wurde das Land flacher, dichter besiedelt, etwas langweiliger, unspektakulärer. Tankstop.
Gegen 15 Uhr war ich kurz vor Santiago. Die Straße ging in eine Autobahn über – die ich sofort wieder verließ. Der Vorort Lavacolla – mit Flughafen und Jugendherberge, leider viel zu weit draußen.
Ich rollte durch eher häßliche Bezirke am Ostrand der Stadt, über den Monte Gozo, den »Berg der Freude«, von dem aus die Pilger zum ersten Mal die Kathedrale in der Ferne sehen konnten.
Und nun kurvte ich wieder durch die Stadt und wußte nicht, wohin. Ein teures Hotel wie letzten Mal wollte ich nicht noch einmal; wo sich billigen Pensionen für Pilger befanden, wußte ich allerdings nicht. Vermutlich in der Fußgängerzone der Altstadt …
Ah! Hier ist das Hotel vom letzten Mal! Ich fuhr an den Rand und faltete den Stadtplan auf. Und jetzt hierhin und dahin zu einem hoffentlich etwas preisgünstigeren Hotel … Aber ich verfuhr mich. Nahe der Altstadt passierte ich überraschend vergammelte Sanierungsgebiete und bog dann westwärts ab.
Eine schmale Einbahnstraße aus grauen, glatten Steinblöcken, links und rechts weiße bis graue Häuser … Warum kam mir die Straße so bekannt vor? Richtig: Auf Pilgern.ch war sie abgebildet. Es war die Straße, die direkt von der Kathedrale weg nach Westen an den überraschend nahen Stadtrand führte – für diejenigen Pilger, die in eitler weltlicher Neugier noch einen Blick auf das Ende der Welt (»finis terrae«) werfen wollte. (Man sieht die grünen, unbebauten Hügel vom Kathedralenvorplatz aus in rund einem Kilometer Entfernung). Und hier ein Hotel, drei Sterne nur - »San Lorenzo«. Aber wo parken? Die schmale Straße – die Gehwege mit Pollern abgeschirmt – bot nirgends Parkmöglichkeiten. Nach vierhundert Metern abbiegen nach rechts. Sackgasse. Wendeplatte. Ich parkte nahe einer dicken, malerischen Eiche. Ich hatte den Stadtrand erreicht. Doch auch die Häuserzeilen täuschten etwas Städtisches vor, das in Wirklichkeit nur als Fassade existierte: Ging man, wo sich die Gelegenheit bot, zwischen den Häusern durch, war man gleich im Grünen, zwischen Wiesen und Gärten, durchzogen von Pfaden, der Hahn besprang die Henne, aus üppigen Orangenbäumen waren Früchte auf den Rasen gefallen, es gab vergammelte Gerätehäuschen … und zum Greifen nahe sah man das Westportal der Kathedrale, fast so, als stünde diese in einer ländlichen Umgebung.
Von der Wendeplatte führte ein schmaler Weg nach Westen, zwischen bemoosten Mauern, Palmen und Efeu: Der Jakobsweg sagte hier »Tschüß!« zu Santiago und schlug sich westwärts in die Büsche.
Ja, das Hotel San Lorenzo hatte noch ein Zimmer frei. 57 Euro mit Frühstück, halb so viel wie letztes Mal.
Kurz frisch machen, dann auf in die Stadt. Entlang der Straße Richtung Kathedrale stand locker ein halbes Dutzend dieser schmalen Altstadthäuser zum Verkauf, einige in offenbar noch ordentlichem Zustand, andere kurz vor ihrem Einsturz. In Portugal warteten viele vergammelte Altstadthäuschen vergeblich auf Käufer, hatte ich Monate zuvor in einem Artikel in der FAZ gelesen. Offenbar war es in Galicien genauso.
Rein in die erstbeste Bar, in der man auch was essen kann. Ich ließ mir Pulpo servieren, Tintenfisch mit Salzkartoffeln und Brot, und blättere bei einem Bier in der »Voz de Galicia«, der »Stimme Galiciens«. Wetterbericht: In Frankfurt schwankt die Temperatur zwischen -1 und -4 Grad, in Berlin zwischen -2 und -8 Grad, in Moskau zwischen -15 und -25 Grad. Je östlicher, desto eisiger. Immer noch läßt ein strammes Hoch alle atlantischen Regenfronten abprallen. Doch auch in den hochgelegenen Städten im spanischen Binnenland soll es leichte Nachtfröste geben. An Galiciens Küste sollte es sehr mild (bis 15 Grad), aber auch sehr stürmisch und regnerisch werden.
Draußen fing es an zu regnen - die angekündigte Regenfront. Als ich schließlich vor der Kathedrale stand, hatte es sich richtig eingeregnet. (Immerhin nur eingeregnet und nicht eingeschneit wie im Februar 2010, als Kinder vor der Kathedrale einen Schneemann bauen konnten, wie ich auf einem Plakat sehen konnte.)
Regen in Santiago – angeblich der Normalzustand dieser Stadt. Der Dudelsackspieler in dem Durchgang nahe der Kathedrale paßte irgendwie dazu …
Ich ließ mich treiben durch die Altstadt. Das unebene Steinpflaster bildete zahlreiche Pfützen, in die man fast unvermeidlich hineinstolperte, wenn man mehr auf die Stadt achtete als auf die eigenen Füße. So saß ich mit nassen, klammen Füßen in diversen Bars, und das Bier wollte mir nicht so recht schmecken.
Wenige Touristen waren unterwegs, wenige Einheimische, zudem war Montag, viele Kneipen hatten zu (nur die Souvenirläden nicht).
Verregneter Montagabend in Santiago – Zeit, wieder ins Hotel zu kommen. Aber vorher auf dem Weg dorthin noch in diese kleine Kneipe da rechts … Das Bier kostete dreimal so viel wie anderswo und kam noch nicht mal vom Faß, eine Frau hieß mich gleich mit Küßchen rechts, Küßchen links willkommen und wollte sich zu mir setzen … Nanu – wo war ich hier hingeraten? Unangenehme Erinnerungen an ein zwielichtiges Lokal in Soho kamen hoch, und ich verweigerte ihr die im ersten Moment gegebene Erlaubnis, sich neben mich zu setzen, wieder – nicht daß es noch Unsummen kostet …
Es waren aber nur schräge Typen und kein Nepp, und mein abweisendes Benehmen wurde mir nicht übelgenommen. Als ich später auf der Suche nach noch unbekannten Kneipen noch mal an dem seltsamen Lokal vorbeikam, stand meine »Gefährtin« zu einer Rauchpause draußen und grinste und winkte mir fröhlich zu. Die spanischen Antirauchergesetze hatten sich unerfreulich in Richtung der deutschen verstrengt – ein Wunder, daß sich die Südländer das bieten ließen. Manche nutzten die Rauchpause aber auch, um gleich zechprellend zu verschwinden, diese Unsitte sei mit den neuen Gesetzen eingerissen, las ich später zu Hause in der FAZ, so daß manche spanischen Wirte jetzt dazu übergegangen seien, nach jedem Bier und jedem Happen gleich abzukassieren, was früher ganz unüblich gewesen sei. O tempora, o mores …
Ich kehrte noch einmal in die Kneipe ein, in der ich den Tintenfisch gegessen hatte, und verzog mich dann ins Hotel, zog mir die Decke über die Schultern, öffnete das Schiebefenster – auch wie in Großbritannien – leicht und ließ mich vom mitunter heftigen Rauschen des Regens in den Schlaf wiegen ...
Nachts in der Altstadt von Santiago

5.2.11

3. Tag: Irun - Pedrafita do Cebreiro (So, 2.1.11)

Erst nach acht Uhr morgens wurde es zögernd hell; noch 20 vor neun brannten die Straßenlampen, zumal graues Wetter herrschte. Vogelgezwitscher drang durchs halboffene Fenster in meinen allzu gut geheizten Raum. Zwischen fernem Möwengekreisch hörte ich erste Züge auf den Gleisen direkt vor meinem Fenster, allerdings waren es nur wenige, die sie sonntagmorgendliche Stille unterbrachen.
Die Bar hatte schon seit halb sieben geöffnet, einer saß schon wieder vor einem Bier, ich hingegen machte es ähnlich wie die meisten, genehmigte mir drei Milchkaffees und zwei Schokohörnchen (belegte Brote gab’s um diese Tageszeit noch nicht) und betrachtete das Publikum, darunter wasserdicht eingepackte Radler.
Wieder zurück im Hotelzimmer, gab der Fernseher leider nur einen Kanal her: Zeichentrick. Irgendwelche französischsprechenden, geschwätzigen, altklugen Kinder kämpften gegen irgendwelche fiesen Monster und blieben dabei leider immer Sieger. Nie wurde eins der Kinder gefressen und gab dann endlich Ruhe.
Gepäck ins Auto und noch mal kurz in die Bar, bei einem kleinen Bier Notizen machen und durchs Fenster sehen, wie sich über den grünen Bergen im Hinterland die Wolkendecke wenigstens etwas hob.
Als ich ins Auto stieg, wollte mir ein windiger Straßenhändler noch ganz billige Rolex-Uhren verkaufen. Unter meinem Scheibenwischer steckte ein Knöllchen: 3,90 Euro. Moderate Preise! Zumal wenn man eh nicht bezahlt …
Es war 11.20 Uhr. Ich rollte durch die Stadt Richtung Autobahn. An der Autobahnauffahrt mußte ich 1,38 Euro aus meinem Portemonnaie krümeln, während hinter mir ein Ungeduldiger hupte und ich an der Steigung den Motor abwürgte. Willkommen zurück im System der BBSE, der blöden Bezahl-Autobahnen Südeuropas, dachte ich.
Vorbei an San Sebastian. Südwärts Richtung Vitoria. Grüne Berge, Viadukte. Das Wetter konnte sich lästigerweise nicht entscheiden, ob es nun regnen sollte oder nicht, dutzende Male schalte ich den Wischer an und wieder ab.
14.20 Uhr, drei Stunden seit der Abfahrt von Irun. Ich erreichte die Gegend von Burgos. Bizarre Felsmassive ragten aus der sie umgebenden Ebene in den Himmel, die Gipfel in den niedrigen Wolken verborgen.
Weiter ging’s westwärts Richtung Leon, über die kahlen Hochebenen der Meseta, vorbei an Carrion de los Condes, meinem Quartier von 2009, die Landstraßen ignorierend, die parallel zur Autobahn liefen. Die Wolken rissen auf, und fortan konnte ich an dem hohen Himmel ein ständig wechselndes Wolkentheater bestaunen. Wofür ein Pilger zu Fuß eine Woche benötigt, das schaffte ich bei gemächlicher Autofahrt in zwei Stunden: Etwa um 16.20 Uhr passierte ich Leon. Ich bog auf die Autobahn Madrid-Lugo-La Coruña ein. Meine Fahrtrichtung schwenkte von West auf Nordwest. Die Gegend wurde hügelig, hinter Astorga bergig. Immer öfter verlief die Autobahn über lange Steigungen und Gefälle. In der Ferne wurden im Nordwesten die Berge sichtbar, die Galicien vom innerspanischen Hochland trennen. Im Westen tauchte die untergehende Sonne die Berge in herrliches (Gegen-)Licht; mitunter schien es, als ob Bergmassive schwebten.
Ich passierte Villafranca del Bierzo, den Ort mit der Kirche mit der Gnadenpforte. Wer von den mittelalterlichen Santiago-Pilgern es wegen Alter oder Krankheit nicht mehr über das letzte Gebirge vor Santiago schaffte, der konnte hier durch die Gnadenpforte gehen und erhielt dann ebenso viel Ablaß seiner Sünden, als wäre er in Santiago gewesen.

Durch diese Pforte sollst du geh'n, wenn du nicht mehr weiterkannst, und dir wird Vergebung zuteil ...

Mein Etappenziel war Pedrafita do Cebreiro, der Ort an der Ostgrenze Galiciens, 1100 Meter hoch an dem Paß gelegen, der Galicien vom spanischen Binnen-Hochland trennt. 15 Kilometer vor Pedrafita fuhr ich von der Autobahn ab, wechselte auf die parallele Nationalstraße 6 Madrid- La Coruña, die langsam aufwärts strebte Richtung Paßhöhe.
Wieder die Verkehrsschilder »Achtung Pilger!«, doch meist war der Pilgerweg von der Fahrstraße abgetrennt. Vor Jahrzehnten, als er es noch nicht war, kam es oft zu bösen Unfällen …
Ich hätte hier links abbiegen und über eine der letzten der einst so zahlreichen unasphaltierten Nebenstraßen Spaniens über die Grenzberge zwischen Leon und Galicien fahren können, aber so abenteuerlustig war ich denn doch nicht; außerdem wollte ich mich ja möglichst an den Pilgerpfad halten.
Pilger waren allerdings kaum zu sehen, nur eine Handvoll Fußgänger, bei denen es zweifelhaft war, ob es sich um Pilger handelte.
Die Straße wand sich bergauf, nicht besonders steil, aber so schmal und kurvig, daß oft nicht mehr als Tempo 30 bis 40 möglich war. Immer wieder winzige Dörfchen und Hotels …
Endlich – gegen 18.30 Uhr – erreichte ich in der Abenddämmerung die Paßhöhe, passierte das Schild »Region Galicien« und wenige Momente später das Ortsschild »Pedrafita do Cebreiro«. Die nach Santiago führende Straße zweigt hier von der N 6 ab. Fast leerer Riesenparkplatz, auch für Lkw, an der Abzweigung. In der Mitte des Parkplatzes ein Häuschen mit Toiletten und Duschen – aus denen aber nur Kaltwasser strömte.
Endlich hat der Pilger Galicien erreicht - und findet den Grenzstein mitunter von Unabhängigkeitsparolen »verziert« vor

Ich parkte, um nach einem Quartier für die Nacht zu suchen. 560 Kilometer hatte ich seit Irun zurückgelegt. Auf einer Harley Sporty bollerte einer mit wohltönend verändertem tiefen Auspuffsound vorbei und parkte vor einer Bar. Ach ja – später, später, dachte ich. Erst ein Quartier finden. Neben meinem geparkten Auto ein Gartengrundstück mit irgendeiner erntereifen Kohlsorte. Merkwürdig eigentlich – eine Woche vor meiner Abreise hatte die Webcam am Cebreiro-Paß, gefunden über einen Link von pilgern.ch aus, tiefverschneite Nadelwälder gezeigt, und auch an der Küste waren nur fünf Grad. Mit Schnee und gefährlicher Glätte hatte ich gerechnet, nicht mit erntereifen Krautbeeten. Vermutlich ist die Webcam einige hundert Meter entfernt, da oben in den Bergen, dachte ich.
Das »Hotel zum Pilger« war leider ausgebucht, seltsamerweise, waren doch augenscheinlich kaum Touristen unterwegs; 200 Meter weiter fand ich in der »Casa Garcia« unterm Dach ein Zimmer mit richtigen Doppelfenstern wie in Osteuropa: Außen ein Fenster, dann eine Fensterbank und innen noch mal ein Fenster.
Ich holte mein Auto heran, verfrachtete mein Gepäck ins Zimmer und vertraute dann der Leuchtschrift außen auf der »Casa Garcia«: »Landestypische Gerichte«. Zu Unrecht. An diesem Abend war die Küche geschlossen. Also zog ich noch mal los ins kleine, überschaubare Dorf.
»+ 2 Grad« verkündete die Leuchtschrift außen an meinem Hotel, und diesmal trog sie wohl nicht. Es war sternenklar und kalt, mein Atem stand mir wie eine kleine Wolke vor dem Mund. Überflüssigerweise wurden gerade bei diesem Beinahe-Frostwetter die Quads des Hoteleigners dampfstrahlgewaschen …
Die »Bar zum 21. Jahrhundert« entpuppte sich als eine öde Sportkneipe, wo die Jugend am Fußballgucken war, der Boden schon vermüllt und nichts außer Bier und Sidra (Apfelwein) im Angebot. Nichts zu essen jedenfalls, auch keine Tapas. (So hatte mein Freund S., der 1989 auf dem Jakobsweg unterwegs war, doch recht, als er sagte, damals habe es nur in Südspanien Tapas gegeben. Ein Rest von dieser sparsamen Einstellung scheint geblieben zu sein …)
Eine Wurst aus einem noch geöffneten Tante-Emma-Laden stillte den größten Hunger, bis ich schließlich – unter einem derzeit geschlossenen Hotel – noch eine Kneipe fand, bei der ich wenigstens ein Schinkenbrot bekommen konnte. (Geöffnete) Restaurants schien es nicht zu geben.
Schon um 21.30 Uhr war ich wieder in meinem Hotel. »Nach Santiago wollen Sie wohl!?« fragte mich die Wirtin. Wie hat sie das nur erraten!? Das Regionalfernsehen berichtete von der Schließung der Heiligen Pforte an der Ostseite des Doms zu Santiago in der Silvesternacht. Nur in den »compostelanischen Jahren«, d. h. solchen, an denen der Tag des Hl. Jakob, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt, ist sie geöffnet. 2010 war das der Fall; das nächste Mal wird erst wieder 2021 sein.
Ich ließ die lederne Kniebundhose im Gepäck verschwinden – für Santiago ziemte sich die nicht – und holte die schwarze Stoffhose hervor. Jetzt noch rasch einen Pullover über die lästigen Kontrolleuchten von Fernseher und Receiver hängen, dann kann an der Matratze gehorcht werden …
Die grünen Hügel Galiciens ...

1.2.11

Raus aus dem Polar-Expreß – ich bin dann mal wieder weg! – Galicien 2010/11: 2. Tag: Montélimar - Irun (1.1.2011)

Der Tagportier war ein Deutscher, und der Nachtportier hatte ihn offensichtlich schon auf diesen lustigen Deutschen vorbereitet, der da in ledernen Kniebundhosen unterwegs war. Nach dem Frühstück packte ich das (diesmal sparsamere) Gepäck wieder ins Auto.
Die Sonne lachte, aber – oh Schreck! – die Batterie meines Fotoapparats schwächelte. Sie hatte sich aber sich aber nur »erkältet« in der kühlen Nacht im Auto und erholte sich während der Fahrt rasch wieder. Fortan nahm ich den Apparat immer mit ins warme Hotelzimmer …
Auf der Route Nationale 7 fuhr ich nach Montélimar hinein: Ein hübsches, lebhaftes Städtchen mit mittelalterlichem Kern, vielen kleinen Läden und Kneipen und locker einem halben Dutzend Hotels. Hier wäre es sicherlich lustiger gewesen in der Silvesternacht – aber dazu hätte ich um 21 Uhr kommen müssen statt um 23 Uhr … Was soll’s – vorbei! dachte ich. Ein ander Mal …
Wieder auf die Autobahn, südwärts Richtung Mittelmeer. Die Berge links und rechts der Rhone wichen zurück, das Tal öffnete sich zur breiten Küstenebene am Mittelmeer. Wolken zogen am Himmel auf. Überraschend viele Abschnitte mit häßlichem Unland, Gestrüpp, Gerümpel, dieser »Maquis« genannte Strauchwald, Gewerbe, Zersiedlung, zwischen schöneren Abschnitten. Nîmes. Narbonne. Abbiegen nach Westen, fort vom Mittelmeer, Richtung Toulouse. Je weiter ich mich vom Mittelmeer entfernte, desto mehr verlor die Landschaft ihre kargen mediterranen Züge, desto freundlicher, grüner, gewissermaßen »ozeanischer« wurde sie. Flache, dichte Nebelbänke erschienen, verschwanden wieder.
Häßlich Hochhausblocks rund um Toulouse. Weiter Richtung Bayonne. Die Wolken hatten sich wieder verzogen, ich fuhr jetzt einem rosaroten Sonnenuntergang mit hübsch angestrahlten Wölkchen über dem Westhorizont hinterher. Erst gegen 18 Uhr wurde es dunkel – so weit war ich nun schon nach Südwesten vorgedrungen.
Endlich war ich bei Bayonne. Die Verkehrsschilder wurden zweisprachig baskisch-französisch. Ich hatte vor, die letzte Ausfahrt wenige Meter vor der spanischen Grenze am Grenzfluß Bidassoa, die »Ausfahrt Nummer 1«, die Ausfahrt Hendaye, zu nehmen und dann in dem Städtchen Hendaye nach einem Quartier zu suchen.
Ich näherte mich Ausfahrt zwei, der vorletzten. »St. Jean-de-Luz«. Wenn man auf die »Corniche Basque«, die Küstenstraße, wolle, solle man hier abfahren, verkündete ein zusätzliches Hinweisschild. Kurz entschlossen verließ ich die Autobahn.
Durch Hügelland wand sich die Straße zum Atlantik runter und dann an diesem entlang. Ich mußte mich auf die kurvige Straße konzentrieren und konnte die Augen nicht schweifen lassen. Diesmal würde ich Hendaye quasi durch die Hintertür betreten, von der Küste aus, nach 740 Kilometern Fahrt.
Ein winziger Vorort, dann noch einmal ein paar Kurven, dann war ich in Hendaye, Frankreichs südwestlichster Stadt. Drei dicke, angestrahlte Palmen mit dem Ortsnamen darunter auf dem grünen Rasen begrüßten den Reisenden – richtig dicke Palmen, nicht diese schmalen wie in Montélimar. Wenig später vor dem Gebäude eines Yachtclubs noch einmal ein paar Prachtexemplare. Ich stieg aus und betrachtete sie: mächtige Stämme, rauh durch die Stümpfe der vertrockneten und abgeworfenen alten Wedel, ein prächtiger Blätterschopf aus vielen vier Meter langen Wedeln. Phoenix canariensis wohl, dachte ich.
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Die Dattelpalmen bilden eine eigene Gattung »Phoenix«. Die »eigentlichen« Dattelpalme, der Fruchtbaum der Sahara-Oasen, heißt Phoenix dactylifera, die »datteltragende Dattelpalme«. Sie hat meist einen langen, dünnen Stamm und einen vergleichsweise wenig eindrucksvollen Blätterschopf – dafür aber trägt sie alle zwei Jahre bis zu zwei Zentner Datteln. Aus ihren Kernen ziehen sich Zimmerpflanzenfreunde Pflanzen. Die Keimung gelingt nur bei konstant hoher Bodenwärme um die 25 Grad. Es kann über fünf Jahre dauern, bis sich nach den einzelnen »Keimblättern« die ersten »richtigen« Wedel bilden.
Dekorativer als Zierbaum und häufig im Mittelmeerraum angepflanzt ist Phoenix canariensis, die »kanarische Dattelpalme«, mit ihrem dicken Stamm und ihrem prächtigen, dichten Schopf langer Wedel. (Als eine von mir als Zimmerpflanze gehaltene nach Jahren ca. zwei Meter groß und ebenso breit war, ließ ich sie im Herbst – schlechten Gewissens – an den ersten Frösten eingehen, denn was im Kübel auf der Dachterrasse so prächtig aussah, paßte kaum noch zum Überwintern in unsere Diele …).
Prächtiger Puschel: Phoenix canariensis, die kanarische Dattelpalme - hier auf Madeira (Wikipedia)
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Direkt bei den Palmen am Yachtclub konnte man parken, eine öffentliche Toilette gab’s auch – also was sprach dagegen, hier das »Hotel Dacia« zu beziehen?: Mein Wunsch nach einem Gute-Nacht-Bier, etwas zu essen – seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gehabt – und einem bequemen Bett …
So rollte ich bald wieder langsam den rund zwei Kilometer langen »Boulevard de la mer« entlang. Hübsche Häuser, aber nur wenige Hotels, offenbar keine Kneipen und unzählige Gratisparkplätze entlang der Straße, größtenteils leere. »Maximal 10 Stunden« verkündete ein Schild. Etliche Wohnmobilisten pennten hinter den verhängten Scheiben ihres Gefährts.
Ich stieg kurz aus und vertrat mir die Beine. Über die weite Mündung des Grenzflüßchens Bidassoa ging der Blick hinüber ins spanische Hondarribia, den Nachbarort von Irum. Orange beleuchtete Häuserzeilen, jede Lampe gestochen scharf erkennbar in der klaren, milden Seeluft. Der Wind war lau, die Kälte des Nordens war hier noch ferner als in Montélimar. Das Hotel gleich nebenan war zu teuer.
Durch das Straßengewirr Hendayes rollte ich am Yachthafen vorbei ins Stadtzentrum und weiter zum Bahnhof. Hier kannte ich mich wieder aus, hier gab es meines Wissens einige Hotels. Doch die waren entweder geschlossen (so das »Hotel Santiago« in der Rue Santiago) oder nicht ganz billig. Sollte ich in einer stillen Seitenstraße im Auto übernachten und die Bahnhofstoilette benutzen?
Zu Fuß marschierte ich über den starkbefahrenen »Pont St. Jacques« ins spanische Grenzstädtchen Irun. Nach meiner Heimkehr las ich, daß ich der ursprüngliche, an der Nordküste Spaniens entlangführende Jakobsweg (als das Landesinnere noch von den Moslems bedroht wurde) tatsächlich über Hendaye und Irun führte, also vielleicht just über diese Brücke. Schließlich war sie auch mit der Jakobsmuschel dekoriert.
Gleich hinter der Brücke der Bahnhof von Irun. »Hotel mit Heizung« verkündete ein Werbeschild. Hier bin ich richtig! Und ein gleich ein Drittel billiger als in Frankreich war’s. Freilich auch prolliger: Polizeieinsatz vor der Spielhalle gleich nebenan, z. T. etwas sonderbare Typen auf der Straße.
Ich aß und trank noch etwas in der Bar nahe dem Hotel, dann ging ich zu Fuß nach Frankreich. Ein raketenförmiger Zug der spanischen RENFE schob sich von Irun her in den Bahnhof von Hendaye, wo schon der französische TGV wartete.
»Was schaust du dir hier an? Die Sterne?« fragte mich ein leicht angesoffener Radler. Ja, mein Freund, die Sterne am Eisenbahnhimmel. »Hast du mir ne Zigarette?« Nein, mein Freund.
In einer Bar am Bahnhof aß und trank ich weiter. Als auch die gegen 23 Uhr schloß, wanderte ich wieder gen Spanien. Aushänge von Immobilienhändlern zeigten, wie teuer Hendaye war, die Stadt, die ihre Einwohnerzahl von 7.000 1955 auf rund 14.000 heute verdoppeln konnte. Lebt sich ja auch sicherangenehm hier.
Nur mal kurz 100 Meter hier Richtung Iruns Stadtzentrum gehen, dachte ich. Oder 200. Und dann ging ich doch bis ins Zentrum der Fast-60.000-Einwohner-Stadt. Zunächst vorbei an Gewerbe-Arealen, dann an einigen »Lärmruinen«, Häusern, die vom Krach benachbarter Schnellstraßen unbewohnbar geworden waren und nun vor sich hin gammelten. Dann wurde es gepflegter, und ich erreichte die Hauptstraße.
Links und rechts die in Spanien üblichen Fünf- bis Siebengeschosser. Es waren noch ziemlich viele Menschen auf den Straßen, geöffnete Kneipen allerdings gab’s kaum, höchstens in Verbindung mit den nicht wenigen Spielhallen. Diverse Temperaturanzeigen zeigten gegen Mitternacht 9 bis 11 Grad an. So laß ich mir den Winter gefallen! Auch in Irun waren Wohnungen unglaublich teuer, und das, wo doch Spanien in heftiger Krise, auch und gerade einer Immobilienpreiskrise sein soll. Hier war jedenfalls nichts davon zu spüren. Und immer noch war unter den Euros der Preis in spanischen Peseten angegeben – in Klammern. (Das Umtauschverhältnis Peseta – Euro war so krumm und so schwer im Kopf zu berechnen, daß die Spanier offenbar immer noch den Pesetenpreis brauchen, um sich das so richtig vorstellen zu können …)
Die Fußgängerampeln waren hier animiert, man sah ein gehendes grünes Männchen mit Hut, und eine Zeitanzeige zählte – wie in San Francisco – die Sekunden an, die die Grünphase noch dauern würde – bis zu 81 Sekunden an kleinen Seitenstraßen, wenn die Hauptstraße eine sehr lange Grünphase hatte.
Viele Geldautomaten gab’s – ich nutzte die Gelegenheit, meine Reisekasse aufzufüllen. Was sich allerdings als überflüssig erwies: In Spanien verbrauchte ich wesentlich weniger Geld als im teuren Frankreich.
Nach Mitternacht war ich wieder an meinem Hotel. Ein paar zwielichtige Jugendliche wollten gleich zusammen mit mir ins Hotel kommen, fragten nach der Rezeption (die 100 Meter weiter an der Bar war – und jetzt sicher schon geschlossen). Ich drängte sie ab, ging in mein Zimmer und sank in den Schlaf, nachdem ich die häßliche Kontrolleuchte des Fernsehers mit einem Handtuch abgedeckt hatte und der offenbar unabstellbaren Heizung durch Aufreißen des Fensters entgegengewirkt hatte …

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