16.12.18

»Leicht anrüchig, die Story, aber trotzdem irgendwie dufte« - zum 3. Advent :-)

So wurde die Story kommentiert, die ich vorgestern in der SZ einstellte. Nachdem ich vorhin 15 cm Klimawandel beiseitegeräumt habe, kann ich sie hier im Warmen einstellen. Hier ist sie:

Der Adventsausflug

»Die meisten unserer Insassen schätzen es ganz außerordentlich, wenn sie von uns in der Vorweihnachtszeit einmal ausgeführt werden«, schnarrte Schwester Agathe, als sie den Rollstuhl mit ihm darin mit klackenden Absätzen vom Behinderten-Minibus durch die langen Gänge des Parkhauses in Richtung Einkaufspassage schob.
Dann sollte ich das am besten auch tun oder zumindest so tun, als ob, dachte er. Das bringt Pünktchen. »Ja, das ist für viele sicher ein ganz besonderes Erlebnis«, sagte er brav, während er die schon jetzt, samstagvormittags um zehn, munter Richtung Ladenpassage strömenden Einkaufslustigen betrachtete, erstmals aus der niedrigen Rollstuhlperspektive heraus.
»Das ist es«, bekräftigte Schwester Agathe, »die Gute«, »und sie würden alles tun, um auch nächstes Jahr in den Genuß dieses Ausflugs zu kommen: Freude zeigen, lächeln, dankbar sein ...«
Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. »Bei Schwester Agathe bist du in den richtigen Händen, wenn du deine Zulassung zum Medizinstudium noch kriegen willst«, hatte sein Vater, selber Arzt, lächelnd gesagt und ihm durch seine Verbindungen dieses »Sozialpraktikum« besorgt.
Diese Zulassung wackelte nämlich bedenklich. Er war kein Einserschüler; das Fallbeil eines zu schwachen Notendurchschnitts drohte unbarmherzig herabzusausen – wenn man es nicht noch durch andere »Qualifikationen« aufzuhalten wußte: der Medizintest – auch da würde er wohl eher flau abschneiden; »soziale Kompetenz beweisen«, indem man einen Tag lang im Rolli das Leben eines Behindertenheimbewohners teilte, und das gar noch am Tag des fröhlichen Adventsausflugs, und dafür üppig Pluspunkte einheimsen ...
»Ja!« hatte er sofort freudig gesagt. Konnte es einen bequemeren Weg geben, als im Sitzen bequem zur Medizin-Zulassung geschoben zu werden?
Sein Vater hatte gelächelt. »Schwester Agathe wird dir eine Einzelbehandlung zuteil werden lassen.«

In der Tat: Kein anderer Proband war mit in dem Kleinbus, nur er in seinem Rollstuhl. Über seine Hüften und durch seinen Schritt zog sich ein »Herniengurt«, wie die gute Agathe ihm erklärt hatte. »Das machen wir bei denen, denen die Eingeweide fortzulaufen drohen«, hatte sie gesagt und seinen Hüftgurt mit einem Klicken hinter dem Rückenteil seines Rollis verschlossen. Und dann war da ein Geräusch wie von einem Schlüssel, der gedreht wird ...
Agathe hatte seine verdutzte Kopfbewegung bemerkt. »Das machen wir, damit uns unsere Lieben nicht verlorengehen«, hatte sie ihm lächelnd Bescheid gesagt, mit derselben lächelnden Selbstverständlichkeit, mit der sie – halb unter seinen Hosenbeinen – die extralangen Schnürsenkel um die Halter der Fußstützen geschlungen und unauffällig mit Schlößchen fixiert hatte.

»Halte deine Finger von den großen Rädern fern, sonst muß ich deine Hände unter einem Muff aneinander fixieren«, hatte S. A. gesagt, und er hielt sich brav daran, versuchte nicht, selbst zu steuern, wohin es ging ...

Inzwischen war die klamme Kälte des Parkhauses wohliger Wärme gewichen, und der unsichtbare Antrieb in seinem Rücken schob ihn in das quirlige Getriebe einer Shopping Mall am dritten Adventssamstag. Zum Glück ist es nicht die meiner Heimatstadt, dachte er erleichtert. So konnte er sich auf ein neues Erlebnis freuen, im doppelten Sinne. In seinem Bauch grollte es, ließ nach einigen Sekunden wieder nach.

Das Klacken der Schritte hinter ihm war in all dem Lärm kaum noch zu hören. Die Stimme hinter ihm aber sehr wohl: »Hier im Erdgeschoß gibt es rund 35 Läden und Geschäfte, im Obergeschoß weitere rund 30, die rund zehn Restaurants und Imbißstände auf beiden Etagen noch nicht mal gerechnet«, dozierte S. A.
Immer dichter wurde das Gewühl in den gar nicht mal so breiten Gängen. Weihnachtsmusik ertönte. Neben einer kleinen Bühne ein Schild: »Krippenspiel 11 13 15 Uhr«. Und sie wickelten ihn in Windeln und legten ihn in eine Krippe ..., erinnerte er sich.
»11 Uhr ist gleich«, tönte es hinter ihm. »Da können wir noch ein bißchen bleiben.« S. A. schob ihn hinten an letzte Sitzreihe. Wieder durchlief ein Grollen seinen Bauch, stärker diesmal und länger, und ließ wieder nach. Ein leichter Geruch nach billigem Weichplastik stieg ihm in die Nase.
»So ähnlich ist es auch bei der Feier am Zweiten Weihnachtstag in unserem Institut«, ließ sich S. A. hinter ihm vernehmen. »Und abends im Fernsehraum. So sitzen sie oft da ... oft längere Zeit ... und ...«
Sie ließ den Satz im Ungefähren verklingen, zog ihn nach einigen Minuten rückwärts aus der Lücke und schob ihn wieder den langen, verstopften Gang entlang. »Jetzt geht’s aufwärts!« – »Die Rolltreppe ist für uns wohl nicht geeignet, Schwester Agathe.« Er hatte sie zu siezen, wurde selbst geduzt. »Bei Hunkemöller gibt’s einen Aufzug in die obere Etage«, wußte sie. Und schon schob sie ihn in den Laden. Zarte, teure Dessous überall, wesentlich zarter als die flauschig-dicke, anschmiegsame, billige »Einmal-Unterwäsche«, die er trug. Ihr Rascheln blieb nur deshalb unhörbar, weil es vom allgemeinen Geräuschpegel hier übertönt wurde.
S. A. schob ihn in die kleine Aufzugkabine im hinteren Teil des Ladens, drückte auf den Knopf fürs Obergeschoß, und im letzten Moment, bevor die Tür sich schloß, drängten sich noch drei Frauen herein; sie standen so dicht bei ihm, halb über ihm, daß sie mit ihren Nasen halb über seinem Schoß hingen. Schunkelmöller, dachte er.
Und wieder eine Attacke von Bauchgrimmen, erneut stärker und länger als die vorherigen. Nein, nicht hier! dachte er verzweifelt, biß die Zähne aufeinander und kniff den Allerwertesten zusammen. Die Kunden werden sich beschweren. ›Stinkemöller‹ werden sie sagen.
Endlich war das Obergeschoß erreicht. Die Tür öffnete sich. Als letzten schob S. A. ihn hinaus. »Ich sehe schon, es wird Zeit, daß ich dich im Eiscafé parke und meine Besorgungen für mich und das Institut erledige – und du auch!« ›Besorgungen‹, dachte er sarkastisch. Warum nicht gleich ›Geschäfte‹?
Im Obergeschoß herrschte etwas weniger Gedrängel. Nach ein, zwei Minuten waren sie bei einer »Verkehrsinsel« im oberen Hauptkorridor, am oberen Fuß der Rolltreppe, angelangt. »Eiscafé Zaganello« verkündeten Leuchtbuchstaben in Pseudo-Schreibschrift.
Nach kurzem Suchen schob S. A. ihn ganz am Rand, schon halb auf dem Gang, an ein rundes Tischchen und winkte dem Kellner, der auch nach kurzer Zeit erschien. »Ein Zitronen-Sorbet für ihn«, wies sie ihn an. »Soweit ich weiß, magst du so was.«
»Ja«, erwiderte er etwas erstaunt.
»Dann danke mir mit einem Handkuß, daß ich dir deine Wünsche erfülle«, sagte sie. Mit meinem Geld, dachte er, drückte aber wie befohlen einen Kuß auf ihre Rechte.
»Ich hole ihn in 30 bis 40 Minuten wieder ab«, sagte sie dem Kellner, der gehorsam nickte und verschwand. Er spürte, wie sie mit dem Fuß die Feststellbremse des Rollis arretierte – unerreichbar für ihn.
»Bis nachher, Kleiner!« Und fort war sie – mit seinem Portemonnaie, seiner Armbanduhr, seinem Ausweis, seinem Autoschlüssel, seinem Handy ...

Fünf Minuten später hatte der Kellner alles gebracht. Er öffnete den Schraubverschluß der Piccoloflasche und goß den Sekt über die Zitroneneiskugeln im Glasbecher. Er hatte gerade den ersten Löffel dieser prickelnden Melange genossen, als er den langen, schmalen Löffel eilig weglegen mußte.
Dieses Mal mußte er kapitulieren. Die zwei »Torpedos« in seinem Arsch sprengten den Rest seiner Selbstbeherrschung entzwei. Nach einem schnellen Seitenblick nach links und rechts – hinter ihm war nur der Gang – stemmte er sich, gestützt auf die Seitenlehnen, etwas in seinem Rolli hoch und ließ folgen, was folgen mußte: Ein heißer, flacher, klebriger Fladen bildete sich unter seinen Pobacken, so schnell, wie ein Koch einen heißen Pfannkuchen wenden und wieder in die Pfanne klatschen würde; und genauso schnell ließ er sich wieder auf diesen Fladen plumpsen. Und wie beim Sorbet noch etwas aufgießen, dachte er und ließ den heißen Strahl vorne die »Melange« komplettieren ...

Wieder ein schneller Seitenblick auf die Gäste, deren nächste kaum anderthalb Meter von ihm entfernt saßen. Links eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, darunter ein Bube von vielleicht sieben Jahren, der interessiert zu ihm herübersah und dann seiner Mutter etwas zuflüsterte; viele Paare, Familien – und alle unendlich mit ihren eigenen Sorgen und Besorgungen beschäftigt. Gott sei Dank ...
Er konzentrierte sich auf den Genuß seines Sorbets. Die Minuten vergingen – ebenso wie sein Zeitgefühl ...
Endlich trat der Kellner an ihn heran: »Wir haben jetzt Schichtwechsel. Dürfte ich jetzt bitte abkassieren?« Das klang relativ fordernd und gar nicht mehr so servil wie vorhin zu seiner ... Betreuerin.
Er sah sich genötigt, bedauernd die Achseln zu zucken. »Tut mir leid, ich habe kein Geld – Sie müssen auf meine Betreuerin warten.«

Endlich, endlich kam sie wieder, erlöste ihn, von der Peinlichkeit dieses Cafébesuchs jedenfalls, zahlte, schob ihn über lange Gänge wieder zum Kleintransporter des Instituts, lud ihn mitsamt seinem Rolli ein, und 15 Minuten waren sie wieder am Punkt ihres morgendlichen Aufbruchs.

S. A. schob ihn durch die Lobby des Alten- und Pflegeheims, wo es an diesem beginnenden Adventssamstagnachmittag fast ebenso lebhaft zuging wie im Einkaufscenter, und bis in einen kleinen Raum, dessen Wände fast durchweg aus Bücherregalen bestanden. »So, jetzt mach ich dich fertig für den Nachmittag. Hier in die Bibliothek kommt heut' nachmittag sowieso keiner, und wenn doch, wirst du auch damit fertigwerden.« Sie entfernte seinen Herniengurt, öffnete seine weitgeschnittene Hose im Schritt ein wenig, so daß die blaue Plastikwindelhose sichtbar wurde.
»Weißt du noch, was ich dir über diese Windelhosen sagte?«
»Ja. Daß sie Made in China sind und nur drei Euro pro Stück kosten.«
»Richtig!« Sie ließ die Gummidichtung an seiner Hüfte ein wenig vor- und zurückschnappen. Sogleich mischte sich ein leichter Klogeruch unter den Plastikgeruch. »Und die Schlupfwindeln?«
»Ebenfalls aus China. 50 Cent pro Stück. Zwei Stück pro Tag. Alle 12 Stunden eine. Mehr gibt das Sparbudget nicht mehr her.«
S. A. lächelte. »So ist es. Also noch schön viel Zeit, um den Alltag eines Insassen hier so richtig gut kennenzulernen.« Sie ging zu einem Regal, holte ein Buch heraus, öffnete es an einem Lesezeichen und legte es auf einen Tisch. »Kapitel 7, Fragen 1 bis 42. Das mußt du später sowieso mal lernen. Falls du es jetzt nicht schaffst, erübrigt sich die Zulassung für Medizin sowieso. Die Antworten auswendig bitte. Bis heut' abend um 7.« Und schon war sie verschwunden, nachdem sie die vorsorglich die Deckenlampe angeknipst hatte.

19.02 Uhr zeigte die Wanduhr; S. A. war wieder im Raum. Er bereitete sich gerade darauf vor, das Gelernte abzuspulen, doch sie sagte: »Dein Vater hat dieses Buch auch. Ich hab grad mit ihm telefoniert. Er wird dich abhören. Du wirst jetzt nach Hause fahren, so, wie du jetzt bist.« Sie kniff in seine blaue Windelhose. »Die darfst du behalten.« Sie schloß seine Hose wieder über der blauen Windelhose, löste die Bindung seiner Schuhe an die Holme der Fußstützen, half ihm in die Schuhe, in denen er gekommen war. »Und nun darfst du mir danken für all das, was du hier erleben durftest.«
Er drückte ihr, noch im Rolli sitzend, einen Kuß auf ihre dargebotene Rechte, bevor er sich erhob und nach ihr den Raum verließ. 


Schönen 3. Advent noch! :-) 

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